In fremden Fußstapfen

(in: GrenzEcho 27.12.2013)

Roman: „Amelies Abschiede“ von Christoph Leuchter und die verquere Beziehung der Tochter zu ihrem Vater

VON SEBASTIAN DREHER

In Christoph Leuchters zweitem Roman „Amelies Abschiede“ sucht eine junge Frau nach dem Leben ihres Vaters und findet ihr eigenes.

Man sagt, das Leben bewegt sich in Kreisen, vieles wiederholt sich irgendwann in gleicher oder abgewandelter Form. So gesehen könnte man Christoph Leuchters zweiten Roman „Amelies Abschiede“ eine Parabel des Lebens nennen – wenn auch eine keinesfalls alltägliche.

Denn der in der Nähe von Aachen lebende Autor lässt es in seinem Zweitwerk ganz schön krachen, im bildlichen Sinne mit einigen handfesten Auseinandersetzungen und viel Spannung, aber auch im Hinblick auf die höchst kompliziert arrangierte Handlung, die auf mindestens drei Erzählebenen spielt und zwischen verschiedenen Tempi und Perspektiven hin- und herspringt.

Während man zu Beginn des Romans noch denkt, es handele sich bei „Amelies Abschiede“ um eine leise Sinn- und Identitätssuche oder eine Geschichte über ein spätes Zueinanderfinden von Vater und Tochter, steigern im letzten Romandrittel unerwartete Wendungen und das Begreifen von familiären Zusammenhängen den Nervenkitzel. Am Ende stehen drei existenzielle Erkenntnisse, die das Handlungspuzzle vervollständigen und in seiner Komplexität begreifbar machen.

Reise in die Vergangenheit

Wenige Tage nach dem Tod ihres Vaters findet Amelie einen Brief, der ein Liebesverhältnis ihres Vaters zu einer anderen Frau offenbart. Von dieser Erkenntnis befeuert, begibt sie sich auf eine Reise in die familiäre Vergangenheit. Mit Hilfe eines Freundes des Vaters fördert sie die Wahrheit Stück für Stück ans Licht, eine Wahrheit, die immer mehr auch ihre eigene wird. In gleichem Maße, in dem der Leser Details zu Amelies Kindheit erfährt, kommen bei ihr lange verborgene und verstörende Neigungen an die Oberfläche. Während sich ihre Beziehung zu einem jungen Mann quasi sexfrei abspielt, fühlt sie sich körperlich-obsessiv zu einem älteren Herrn hingezogen, der psychopathische Züge trägt, sie schlägt und missbraucht.

Neben dem Liebesbrief fällt Amelie auch noch ein Romanfragment ihres schriftstellerisch begabten Vaters in die Hände, das im weiteren Verlauf zu einer Art Matrize ihres eigenen Handelns wird. Dieses Manuskript trägt denselben Namen wie der Roman: „Amelies Abschiede“.

Die Protagonistin scheint wie eine Marionette an ihren Fäden in fremden Fußstapfen zu wandeln, ein schon gelebtes Leben zu wiederholen. Und wirklich wird sich herausstellen, dass sie demselben Mann verfallen ist wie ihre Mutter einst.

In seinem Zweitwerk „Amelies Abschiede“ überzeugt Christoph Leuchter – wie schon in seinem ersten Roman „Letzter Akt“ von 2012 – durch sprachliches Geschick und die Fähigkeit, seinen Figuren Leben einzuhauchen, sie greifbar zu machen. Nichts zu spüren von der Angst vor „dem zweiten Buch“.

Im Gegenteil, Leuchter verwendet selbstbewusst actiongeladene Sequenzen, verwendet teilweise vulgäre Sprache und gewährt detailreiche Blicke in menschliche Abgründe.

Nach dem Lesen von „Amelies Abschiede“ glaubt man, einen Film gesehen zu haben, so bilderreich die Sprache, so schockierend die Aha-Erlebnisse, so komplex, aber dennoch nachvollziehbar die Handlung. Und am Ende des Romans steht – so viel darf man verraten – ein Happy End.

Christoph Leuchter: Amelies Abschiede. Eine Lügengeschichte
Steidl-Verlag, 224 S., 19,90 Euro, ISBN: 978-3-86930-661-2