„Keine Welt“ oder?

Christoph Leuchter liest am Donnerstag, 30. März, im Welthaus Aachen

Mit den Romanen „Letzter Akt“ (2012) und „Amelies Abschiede“ (2013) hat Christoph Leuchter seinerzeit deutschlandweit auf sich aufmerksam gemacht. Gelobt wurden die beiden Romane unter anderem von der FAZ, vom Stern und von Deutschlandradio Kultur. Seither schreibt der Autor und Musiker an seinem dritten Roman. Am Donnerstag, 30. März, gastiert er in der Aula des Welthauses mit einem ausgesuchten Programm. Harald Claßen kredenzt dazu an Saxophon und Klarinette spontane musikalische Leckerbissen. Die Veranstaltung beginnt um 19 Uhr.

Für die Lesung im Welthaus Aachen hat Leuchter Auszüge aus bisher Veröffentlichtem im Gepäck, vor allem die kürzlich erschienene Erzählung „Keine Welt“ wie auch „geheime Aachen-Passagen“ aus „Amelies Abschiede“. Und vielleicht gibt es im Laufe des Abends doch die eine oder andere Kostprobe aus dem aktuellen Manuskript.

Christoph Leuchter unterrichtet Kreatives Schreiben an der RWTH Aachen University, deren Schreibzentrum er seit 2012 leitet. Ausgezeichnet wurden seine Arbeiten mit den Stipendien des Landes NRW, des Berliner Senats und des Literarischen Colloquiums Berlin sowie durch die Kunststiftung NRW.

Christoph Leuchter: „Keine Welt“ oder?
30.03.2023, 19.00 Uhr
Musik: Harald Claßen (Klarinette & Saxophon)
Welthaus Aachen, Aula
Aachen, An der Schanz 1
Eintritt: frei

Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten 15. April 2020

Meine Friseurin, das Virus und die singende Polizei
Oder die Frage: Können wir aus Corona etwas lernen?

Was auch geschieht, wie lange auch immer das alles noch dauert – für viele ist eins längst klar: Nach der Krise wird nichts mehr so sein wie zuvor.

Stimmt das? Vielleicht. Indes mit Gewissheit sagen, kann es niemand. Hat es doch ähnliche Aussagen schon im Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2008 gegeben. Und mal ehrlich: So wahnsinnig viel hat sich seitdem für die Menschen auf der Straße, die momentan eher zu Hause bleiben müssen, nicht verändert.

Aber – zwischen 2008 und 2020 gibt es einen fundamentalen Unterschied: Die Krise damals war für die meisten Menschen eine sehr abstrakte. Banken mussten gerettet werden. Rettungsschirme wurden aufgespannt. Aber außer den Finanzexperten und denjenigen, die tatsächlich Aktien von Lehman Brothers gekauft hatten, wusste niemand so recht, was da eigentlich geschah. Die Börsen spürten es und massiv natürlich die Griechen, aber hierzulande war der ganze Spuk für die meisten schnell vorbei. Ein bisschen musste man noch um den Euro bangen, aber das war‘s dann auch: Die wenigsten Deutschen waren existenziell bedroht.

Das ist jetzt anders. Und das Ausmaß lässt sich bislang allenfalls erahnen. Sehen und fühlen kann man aber schon jetzt: Das, was die sogenannte Corona-Krise mit uns macht, betrifft plötzlich die Menschen selbst – ganz real und in Echtzeit. Nicht die da oben, nicht die Mega-Konzerne, nicht irgendwen, nein, uns alle und unmittelbar.

Das Virus ist lebensgefährlich! Und das im doppelten Sinn. Die einen kostet – und das ist am allerschlimmsten – die Krise tatsächlich das Leben. (Dabei ist es im Übrigen völlig egal, wie alt man ist – alles andere ist blanker Zynismus!) Das Leben der anderen wird in irgendeiner Form berührt sein. Corona, so schön der Name auch klingt, scheint sich vor allem zu einer psychologischen und einer wirtschaftlichen Krise auszuwachsen. Aber diesmal trifft es in erster Linie die Friseurin, die ihren Job verliert, den Mechatroniker, der in Kurzarbeit muss, und den mittelständischen Unternehmer, dem die Insolvenz droht.

Die gesundheitliche Gefahr beziehungsweise Dimension des Ganzen ist immer noch schwer zu fassen. Unzweifelhaft erkennt man sie daran, dass in den Medien aktuell die Virologen das Wort führen. Vorher kamen die in den Programmen gar nicht vor. Ansonsten kämpfen die meisten von uns eher mit den Konsequenzen des sogenannten Kontaktverbots als mit der wirklichen Bedrohung. Die Fernsehbilder italienischer Militärkonvois, die Hunderte von Leichen transportieren, wirken nur tausend Kilometer entfernt wie düstere Hollywoodproduktionen, surreal, nicht wie das wahre Leben.  

Es fällt auf, dass nicht alle Experten in der Krise immer richtigliegen. Manche Virologen und Wirtschaftsweisen scheinen bei ihren Vorhersagen eher die hauseigenen Glaskugeln zu bemühen. Gleichwohl: Je länger das Ganze dauert, desto häufiger fragen die Menschen schon jetzt nach dem Sinn. Was lernen wir aus der Krise?

Erste Antworten klingen hier und da allerdings, als sei irgendjemand schuld an dem Ausbruch von Covid-19. Als müsse man Systeme oder Handlungsträger dafür zur Rechenschaft ziehen.

Das ist Unsinn! Weder der Kapitalismus hat das Virus losgetreten noch die Globalisierung. Alles andere ist Verschwörungstheorie. Eine Pandemie kommt einfach: die Pest, die Spanische Grippe, Ebola, Corona. Wie sehr sie sich ausbreitet, ist eine andere Frage. Und eine Epidemie ist auch keine Strafe Gottes. Gleichwohl muss man nicht alles in der Welt, wie wir sie kennen, grenzenlos gut finden –  nicht den Turbo-Kapitalismus, der uns kurzsichtig und kurzatmig macht, nicht diejenige Globalisierung, die die Menschen vergisst, und erst recht keine Religionen, die von strafenden Göttern träumen.

Es kann nie schaden, darüber nachzudenken, wie wir in Zukunft leben wollen: Wie können wir – wenn schon nicht total „entschleunigen“ – wenigstens nicht permanent überdrehen? Wie lässt sich die drohende Spaltung der Gesellschaft und der Welt überwinden? Ist es richtig, dass ein Top-Manager zig Mal so viel verdient wie eine Altenpflegerin oder ein Paketzusteller? Hat das eine vielleicht sogar mit dem anderen zu tun? Diese Fragen kann und muss man sich immer stellen. Manche Leute haben nur gerade mehr Zeit zum Denken – und vielleicht ist das gut so.

Spätestens bei der Frage, wie wir unsere Umwelt und damit auch unsere Gesundheit besser schützen, was wir dringend tun müssen, spätestens da lehrt uns die Krise, dass Lösungen nicht so einfach sind wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Weil die Welt eine komplexe ist.

Erste Reaktionen und Kommentare, die bereits jubilieren und das aktuelle „Herunterfahren“ des gesellschaftlichen Lebens als Beweis dafür anführen, dass es „auch anders geht“, darf man getrost als naiv oder ideologisch zurückweisen. Der aktuelle Zustand der Gesellschaft ist sicher weit vom Ideal entfernt – es sei denn, man ist zufällig Misanthrop oder Narzisst.

Aber noch einmal: Was können wir lernen? Müssen wir etwas lernen?

Sicher wird es Neuerungen in der nächsten Zeit des Improvisierens geben, die sich als sinnvoll erweisen; aus der Not Geborenes, das wir, wo es möglich ist, beibehalten können: Homeoffice, Videokonferenzen, Desinfektionsmittel. Manchmal sind es auch Gepflogenheiten, die wir bereits kannten, aber irgendwie vergessen hatten: Lesen, Sinnieren, Spazierengehen.

Wir lernen auch, dass die Krankenhäuser und Pflegeheime demnächst besser mit Masken und Schutzausrüstung ausgestattet sein müssen, logisch. Ach ja, wir lernen – wieder einmal –, dass Geld nicht alles, aber auch nicht unwichtig ist. Und wir lernen gleichzeitig, dass „Durchökonomisieren“ nicht überall das Maß der Dinge sein darf. Und: Alles ist wichtiger als Klopapier!

Bleibt die verwunderte Erkenntnis: Das Leben und unsere Gesellschaft sind immer noch verdammt verletzlich – auch in Zeiten von schnellerem Internet und Operationen am offenen Herzen. Das hätten wir so nicht gedacht. Für unsere Gesundheit gibt es selbst in der hochmodernen Welt keine Garantie. Aber wir leben zum Glück nicht mehr im Mittelalter und unser Gesundheitswesen kann Maßnahmen ergreifen, die bisweilen sogar erfolgreicher sind als Medikamente und Impfstoffe.     

Mitte März, kurz vor dem Kontaktverbot, als sich die Entwicklung schon abzeichnete, da sagte meine unerschrockene Friseurin: „Die Krise wird auch eine Chance für uns sein. Selbst die schlimmste Katastrophe ist für irgendetwas gut.“ Mutig. Uneigennützig. Nahezu philosophisch. Aber das wussten wir ja schon immer: dass die wahren Philosophen Steinmetze, Linsenschleifer und Friseurinnen sind.  

Und ob wir daraus etwas lernen oder nicht – es zeigt sich: Leben findet auch in digitalisierten Zeiten immer noch vor Ort statt. Dort leisten die kleinen und großen Helden der Krise gerade Bewundernswertes: Die Kassiererin im Supermarkt, der Student, der bei der Telefonseelsorge aushilft, Ärzte und Pfleger in Kliniken und Altenheimen sowieso. Die Liste lässt sich ins Unendliche verlängern. Selbst Politiker machen keine schlechte Figur. Und plötzlich gibt es überall Nachbarn, die sich unterstützen, Spaziergänger, die sich grüßen, Polizisten, die singend durch die Straßen ziehen und für einsame Menschen die Sonne aufgehen lassen. Das tut gut. Das lässt hoffen. Grandios, wenn das auch nach der Krise so bliebe.

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