Amelies Abschiede

Zwei Wochen nach dem Tod meines Vaters fand ich Helens Brief im Geheimfach seines Schreibtischs. Ohne diesen Fund hätte ich nie von der Liebschaft der beiden erfahren, wäre ich ihnen nicht nachträglich zur Komplizin geworden. Alles, was geschah, geschah durch diesen Brief. Und weil uns diese wenigen Worte auf Papier auf so eigentümliche Weise  miteinander verbinden, sind sie mir teuer.
Deshalb habe ich Jan gebeten, mir die Schachtel mitzubringen, in der ich den Brief aufbewahre, die Schachtel, die mir mein Vater zu meinem neunten Geburtstag geschenkt hat − oder, wie wir es nannten: Tag der Ankunft.

Seit gestern ist der Verband von den Augen. Dass ich alles nur verschwommen wahrnehme, ist angeblich normal. Die Ärzte beteuern, es werde sich von Tag zu Tag bessern. Allerdings haben sie mich schon bei der letzten Operation belogen, die viel länger als angekündigt gedauert hat, weshalb die von der Narkose herrührende Übelkeit auch am Tag danach noch anhielt.
Meinen Fragen weichen sie aus. Und auch Jan beschwichtigt: Alles brauche seine Zeit. Er hat mir Blumen mitgebracht und ein kleines Diktiergerät. Die Ärzte meinen, Lesen und Schreiben würden meine Augen noch zu sehr anstrengen, und Jan gibt ihnen recht, da steckt er mit ihnen unter einer Decke.
Also werde ich die Geschichte auf Band sprechen. Ich soll sie mir von der Seele reden, meint Jan, in einem Rutsch, ohne lange Grübelei. Es gehe nicht um Perfektion, ermutigt er, obwohl er weiß, wie sehr mich solche Sätze ärgern. Die Aufnahme sei für niemanden bestimmt, reine Therapie. − Jan ist wirklich der Einzige, der mir so etwas sagen darf.
Warum kann ich es nicht einfach dir erzählen?, frage ich ihn, während er mein Abendbrot aufisst. Doch Jan winkt ab. Ich vermute, er fürchtet die Intimität der Geschichte.
Wenn es sich ohnehin niemand anhören wird, sage ich, kann ich auch einfach vor mich hin plappern. Warum dann dieser Unsinn mit der Aufnahme?
Weil du es sonst nicht machst, erwidert Jan, und er hat natürlich recht. Immer noch kauend ergänzt er, er habe mir die gewünschte Schachtel mitgebracht. Ob er sie auf den Nachttisch stellen solle?

Helens Brief an meinen Vater liegt zuoberst, über anderen Schreiben, Fotos und Erinnerungsstücken, die ich im Laufe der Zeit gesammelt habe. Das jüngste ist eine Eintrittskarte zu Mozarts Entführung aus dem Serail im Topkapí-Palast in Istanbul.
Längst kenne ich den Brief auswendig. Und doch tut es von Zeit zu Zeit gut, ihn herauszunehmen und Helens ausufernde Schrift zu betrachten, mit den Fingerkuppen über die neugierigen Buchstaben zu streichen.
Die Vorhänge in meinem Krankenzimmer sind zugezogen. Das Diktiergerät nimmt auf… Jan hat recht: Je mehr ich darüber nachdenke, desto schwieriger erscheint der Anfang, und die Angst vor dem Ende wächst.